Kardinal Dr. Walter Brandmüller am 31. Juli 2019, dem Fest des hl. Ignatius von Loyola, bei seinem Vortrag in Maria Vesperbild
Der Beitrag des Christentums zur Zukunft Europas
Vom Beitrag des Christentums zur Zukunft Europas soll die Rede sein.
Aber: Was ist überhaupt „Europa“? Gewiss meinen wir hier nicht die Europäische Union mit ihren in Brüssel und Straßburg existierenden Organen.
Vielmehr soll jener weite Raum zwischen dem Atlantik und dem Ural in den Blick genommen werden, in dem eine bei allen Unterschieden in zwei Jahrtausenden gewachsene Kultur die verschiedenen Völker zu einer umfassenden Einheit verbunden hat.
Zu einer Einheit, die auf jenem Grund beruht, der durch die oft zitierte Trias Jerusalem, Athen und Rom charakterisiert wird.
Die Erfahrung, dass die Völker dieses Europa seit dem 19. Jahrhundert in einem geradezu euphorischen Prozess der Emanzipation sich von eben diesem Fundament losgelöst und in der Folge den Kontinent in bis dahin unerhörte Katastrophen gestürzt haben — eben diese Erfahrung hat um die Mitte des 20. Jahrhunderts Staatsmänner wie Alcide de Gasperi, Robert Schuman und Konrad Adenauer dazu bewogen, beim Wiederaufbau nach dem 2. Weltkrieg aufs Neue auf jene Grundlagen zu setzen, auf denen Europas einstige Größe erwachsen war.
Ein Beginnen, dem die Kulturrevolution der 1968er-Jahre und deren Konsequenzen ein brutales Ende setzten.
Und nun — wie präsentiert sich das seiner geistigen Grundlagen vergessene Europa von heute? Vor allem ratlos. Uneins, zerstritten steht man der neuen Völkerwanderung, dem möglicherweise drohenden Zerfall der Europäischen Union und dem Problem gegenüber, in dem zwischen Amerika, Russland und China bestehenden Spannungsfeld einen Platz für Europa zu finden.
Die Lähmung, die Unfähigkeit, sich — und zwar gemeinsam — dieser Herausforderung zu stellen, ist freilich nur Folge und zugleich Offenbarung des geistigen Zustandes unseres Kontinents.
Da nun setzt unsere Frage an: Kann das Christentum in dieser Situation dazu beitragen, dass dieses Europa Zukunft hat?
Noch vor dem Versuch einer Antwort ist freilich festzustellen, dass es „das Christentum“ als ein Abstraktum gar nicht gibt. Es gibt Menschen, Institutionen, die sich in sehr unterschiedlicher Weise auf Jesus Christus berufen. Diese Unterschiede wurden in den letzten Jahrzehnten namentlich auf dem Gebiet der Bioethik, des Lebensschutzes, der Familie immer deutlicher. Dennoch — gleichsam auf der Grundlage eines kleinsten gemeinsamen ideologischen Nenners — im Namen all dieser Christentümer unser Thema abhandeln zu wollen, wäre ein ebenso intellektuell unseriöses, wie darum auch unstatthaftes, ja anmaßendes Unterfangen. Lassen wir also das sterile Abstraktum „Christentum“ und begnügen wir uns mit dem Konkreten. Erlauben Sie mir darum, das Thema von meinem, dem katholischen, Standpunkt aus zu betrachten.
Da nun sei zunächst gesagt, dass die Kirche nicht nur Verkünderin des Evangeliums Christi ist. Vielmehr hat sie sich stets auch als Hüterin der natürlichen Geistesgüter, des Wahren, Guten und Schönen, verstanden.
Darum besteht der erste Beitrag der Kirche zur Zukunft Europas noch vor der Verkündigung des Evangeliums Christi in ihrem Beitrag zu der — sagen wir es einmal so — Wiederinstandsetzung der natürlichen Grundlagen menschlichen Lebens, menschlicher Gesellschaft.
Dass dies eine vitale Notwendigkeit ist, ergibt schon ein oberflächlicher Blick auf die gesellschaftliche Realität von heute.
Einige Stichworte mögen genannt werden. Da wird Leben
und Gesundheit der
Bevölkerung durch Produktion und
Vertrieb verdorbener Lebensmittel aufs Spiel gesetzt. Bauunternehmer verwenden minderwertiges
Material und riskieren damit Gebäudeeinstürze. Finanzmanager verursachen durch bedenkenlose Spekulation
ein Chaos der Finanzmärkte. Kinder
werden entführt, verstümmelt, getötet, um mit ihren gesunden Organen weltweiten Handel zu treiben. Hinter fragwürdigen
biotechnischen Forschungen stecken massive finanzielle Interessen. Hinzu kommt der seit Jahrzehnten bestehende Skandal der
Abtreibung, dem in wachsendem Maße die sogenannte Euthanasie entspricht.
Übergehen wir jene Perversitäten, die die sogenannte reproduktive Medizin
erfunden hat und praktiziert. Genug damit.
All diese schon zur Alltäglichkeit gehörenden und darum immer weniger wahrgenommenen Tatsachen sind Folgen und Indizien für eine Sicht des Menschen, die diesen nur nach seinem biologischen, sozialen, ökonomischen Nutzwert betrachtet. Von der Einmaligkeit der Person und ihrer Würde ist nicht mehr die Rede. Kann — und das ist eine beängstigende Frage — kann auf einer solchen Grundlage ein Europa aufgebaut werden, in dem es sich lohnt zu leben? Ein Europa, das wir kommenden Generationen wünschen können?
Wenn es also gilt, unserem Kontinent neue Zukunftsperspektiven zu eröffnen, muss es zuallererst um eine Wiederentdeckung des natürlichen Sittengesetzes gehen. Dieses natürliche Sittengesetz ist keine katholische Spezialität, denn die hier vorgelegten Normen und Prinzipien ergeben sich nicht erst aus der biblischen Offenbarung, sondern schon aus dem Wesen von Mensch und Welt, aus ihrer Natur. In diesem Verständnis sprechen wir auch von Naturrecht. Dagegen erhebt sich natürlich der energische Protest der rechtspositivistischen Schule, die mit Nachdruck als Recht nur das anerkennen will, was von einer — von wem auch immer — dazu berechtigten gesetzgeberischen Autorität als Recht und Gesetz erklärt worden ist.
Damit ist allerdings einem unkontrollierbaren Rechtsrelativismus freie Bahn eröffnet, an dessen Konsequenzen diese Theorie scheitern muss.
Eklatant wird das Dilemma des Rechtspositivismus am Beispiel etwa der Nürnberger Prozesse nach dem 2.Weltkrieg. Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass das nationalsozialistische Gewaltregime auf legale Weise an die Macht gelangt ist. Die von ihm geschaffenen Verfassungsorgane hatten demnach rechtmäßige -auch legislative – Gewalt. Die von ihnen erlassenen Gesetze, die etwa sogenannte rassische Mischehen verboten, zwangsweise Sterilisation sogenannter erbkranker Personen, die Tötung geistig Behinderter anordneten und anderes mehr, waren demnach im Sinne des Rechtspositivismus zweifellos geltendes Recht.
Waren also jene, die solche Gesetze angewandt haben, dessen ungeachtet legitimerweise vor Gericht zu ziehen und zu bestrafen? Oder waren sie unschuldige Opfer von Rachejustiz der Siegermächte?
Kurzum, der rechtspositivistische Ansatz führt in die Irre und ins Chaos.
Was bleibt ist das natürliche, sich aus der der gesamten Schöpfung innewohnenden metaphysischen Ordnung ergebende, durch die Vernunft zu erkennende Sittengesetz. Dieses hat die Kirche von ihrem Ursprung an verkündet, die Philosophie und Theologie der Scholastik hat es entfaltet und begründet. Es ist die allein tragfähige Grundlage individuellen und sozialen sittlichen Lebens.
Es war nicht anders zu erwarten, als dass die Kirche, indem sie dieses Sittengesetz verkündet, seitens der verschiedenen philosophischen Systeme der Neuzeit erbitterten Widerstand erfahren hat — dies wird auch in Zukunft so bleiben. Dennoch ist daran festzuhalten: So wie die menschliche Natur Raum und Zeit übergreifend eine und dieselbe ist, so muss sich das sittliche Handeln des Menschen an gleichermaßen Raum und Zeit übergreifenden Prinzipien und Normen orientieren, die sich aus der Person-Natur des Menschen ergeben, wenn anders individuelles wie soziales Leben gelingen soll.
Hierzu bemerkt Papst Johannes Paul II. in seiner
Enzyklika „ Veritatis splendor“ (Nr.
96): „Nur im Gehorsam gegenüber
den universalen sittlichen Normen findet der
Mensch volle Bestätigung der Einzigartigkeit seiner Person und die Möglichkeit sittlichen Wachstums … Diese Normen bilden in der Tat das unerschütterliche Fundament und die zuverlässige Gewähr für ein gerechtes und friedliches menschliches Zusammenleben und damit für eine echte Demokratie“ (Nr. 96).
„Nur eine Moral, die Normen anerkennt, die immer und für alle ohne Ausnahme gelten, kann darum das Fundament für das gesellschaftliche Zusammenleben sowohl auf nationaler wie auf internationaler Ebene gewährleisten“ (Nr. 97).
Es handelt sich hierbei um ein Prinzipien- und Normengefüge, das — noch einmal sei’s gesagt – vor jeder Gesetzgebung existiert, weil es in der inneren Ordnung des Seins selbst wurzelt. An ihm muss jede Gesetzgebung Maß nehmen, wenn sie denn den Anspruch erheben will, gerecht zu sein. Schon Isidor von Sevilla (gest. 636) meint: „Ius dictum quia iustum“: Recht ist etwas, weil es gerecht ist — und nicht umgekehrt: „gerecht ist etwas, weil es Recht ist.“
Ist der Hinweis auf die grundlegende Bedeutung des Naturrechts für Europas Zukunft der erste Beitrag, den die Kirche dafür zu leisten vermag, so besteht der zweite darin, der Gesellschaft von heute begreiflich zu machen, was Wahrheit für sie bedeutet.
Dass mit der Nennung dieses Begriffs ein Sturm des Widerspruchs ausgelöst wird, nehmen wir einmal gelassen hin. Pilatus hat viele alte und modernste Nachfolger gefunden — und der Definitionen von Wahrheit ist kein Ende.
Aber: jene — sagen wir einmal wahrheitsfeindlichen philosophischen Denkrichtungen — von Systemen kann wohl nicht die Rede sein — die sich vor allem seit dem späteren 17. Jahrhundert zu Wort gemeldet haben, müssen sich doch fragen lassen, welche gesellschaftlichen, kulturellen, politischen Früchte ihre Wahrheitsvergessenheit gebracht hat.
Da sind einmal die Utilitaristen wie Thomas Hobbes, John Stewart Mill oder später Auguste Comte, für die das entscheidende Kriterium für menschliches Handeln dessen Nützlichkeit bzw. der Erfolg ist. Ein klassisches Beispiel für den angewandten Utilitarismus ist der Hohepriester Kaiphas, der den Todesbeschluss über Jesus damit begründet, es sei besser, dass ein einziger sterbe als dass das ganze Volk Schaden leide. Ob die gegen ihn vorgebrachten Anklagen wahr sind, spielte für den Utilitaristen keine Rolle.
Der Pragmatismus — ein typisch amerikanisches Gewächs des 19. Jahrhunderts —lehrte sodann, Wahrheit habe keine Eigenbedeutung, sondern ergebe sich aus der Nützlichkeit eines Gedankens für die Bewältigung praktischer Aufgaben. Kriterium für die Wahrheit ist die Machbarkeit. Hierfür ist Pontius Pilatus zu zitieren, der, um Ruhe und Ordnung in Jerusalem besorgt, dem Pöbel nachgibt, den Publikumsliebling Barabbas frei und Jesus kreuzigen lässt. Auch ihm stellt sich die Wahrheitsfrage nicht.
Noch radikaler ist der Relativismus, der mit Nachdruck verkündet, dass es eine absolute, umfassende Wahrheit und damit auch allgemein gültige sittliche Normen überhaupt nicht gibt, ja nicht geben kann, da alles Erkennen von jeweils sich verändernden individuellen oder kulturell-historischen Umständen abhängig ist. Wer allerdings dennoch den Anspruch erhebt, Wahrheit erkannt zu haben, verfällt damit eo ipso dem Verdammungsurteil und der harten Intoleranz der Relativisten, die damit freilich ihren eigenen Relativismus ad absurdum führen, indem sie ihn solchermaßen absolut setzen.
Die Feststellung, dass die großen politisch-kulturellen Katastrophen des 20. Jahrhunderts wie auch die eingangs skizzierten Verfallserscheinungen der Gegenwart ihre Ursachen auch — vielleicht sogar vorzüglich — in jener weitverbreiteten Geisteshaltung haben, für die Wahrheit keine Rolle spielt, dürfte nicht verfehlt sein.
Es muss also mit Nachdruck darum
gehen, die Bedeutung der Wahrheit für unser
Denken und Handeln neu zu
entdecken. Nicht „was nützt es“ oder „ist es machbar“
müssen die entscheidenden Fragen lauten, sondern: „ist es wahr“, „steht es im Einklang mit der Wahrheit“.
Die Beantwortung dieser Frage setzt die Existenz und die Erkennbarkeit einer übersubjektiven Wahrheit zwingend voraus. Ohne sie ist Kommunikation unter Personen bzw. Gemeinschaften unmöglich. Ohne sie kommt es zur Atomisierung der Gesellschaft, in der dann die einzelnen „Atome“ d. h. Personen neben oder gegeneinander stehen, woraus sich dann das bellum omnium contra omnes (der Krieg aller gegen alle) und das homo homini lupus (der Mensch ist dem Menschen ein Wolf) des Thomas Hobbes ergeben muss.
Die genannten Denkströmungen des Utilitarismus und Pragmatismus sind aber nicht nur wegen ihrer praktischen zerstörerischen Konsequenzen abzulehnen, sie sind mehr noch auf Grund ihrer inneren Widersprüche als unhaltbar zu bezeichnen.
Die von keinem bezweifelte Wirklichkeit der Vernunft wäre ohne die Existenz und Erkennbarkeit von Wahrheit absurd. Wozu gäbe es dann überhaupt Vernunft? Nur um darzutun, dass Wahrheit nicht existiert? Ohne Wahrheit ist Vernunft gegenstandslos und damit sinnlos.
In ähnlicher Weise setzt die Tatsache, dass es das Auge, das Ohr gibt, die Existenz von Form und Farbe bzw. von Tönen und Geräuschen voraus, wenn Auge und Ohr nicht eine sinnlose Caprice der Evolution sein sollen. In ähnlicher Weise führt sich auch der Relativismus selbst ad absurdum. Wenn also jeder eine eigene individuelle Wahrheit hat, ist es unausweichlich, dass zahllose solcher Wahrheiten aufeinander stoßen, sich widersprechen. Da es aber im Sinne des Relativismus kein allgemein verbindliches Kriterium für Wahr und Falsch bzw. Gut und Böse gibt, ist entweder totale Lähmung oder Chaos die Folge. Der Relativismus — und dafür gäbe es auch noch andere Gründe — erweist sich als Irrweg des Denkens.
Nun aber gibt es in der Tat die unmittelbare Erfahrung
von Wahrheit, die sich an der Wirklichkeit
bewährt. Die Wahrheit einer medizinischen Theorie erweist sich, indem ihre Anwendung zur Heilung führt. Wenn es — ein
anderes Beispiel — möglich ist, durch
mathematisch-physikalische Berechnungen Astronauten auf einem bestimmten Planquadrat der Mondoberfläche landen zu
lassen, dann doch nur
deswegen, weil die dem Unternehmen zu Grunde liegenden physikalischen Gesetze und die darauf beruhenden Berechnungen wahr sind. Es ist ein überwältigendes intellektuelles Erlebnis, wenn man die adaequatio intellectus et rei (Entsprechung von Intellekt und Sache)so mit Händen greifen kann wie ein Astronaut.
Davon abgesehen, dass weder die menschliche Vernunft noch der Kosmos aus sich selber erklärbar sind, sondern nur als geschaffene Wirklichkeit, ist dabei am erstaunlichsten die nahtlose Übereinstimmung, das Ineinandergreifen, das Aufeinanderbezogensein von Denken und Sein, von Wahrheit und Wirklichkeit. Das aber verweist zwingend auf eine alles Denken und Sein überragende und umgreifende Instanz — auf den Creator Spiritus (Schöpfer Geist).
War bisher von der vitalen Bedeutung einer Wiederentdeckung des natürlichen Sittengesetzes und der Wahrheit für die Zukunft Europas — und der Welt — die Rede gewesen, so stellt der Hinweis auf den Schöpfer von Welt und Mensch das schlechthin entscheidende Thema „Gott“.
Ebenso wenig wie menschliches Leben ohne das natürliche Sittengesetz und die Verankerung in der Wahrheit gelingen kann, können die Existenz von Welt und Mensch ohne Gott gedacht werden. Es geht also darum, der europäischen Gesellschaft von heute und morgen ihren wesentlichen Transzendenzbezug neu bewusst zu machen.
Ein Individuum, eine Gesellschaft,
die dieses wesentliche Bezogensein auf Transzendenz entweder nicht erkennt oder gar bewusst
leugnet, verschließt sich selbst die entscheidende Dimension menschlicher Existenz. Dass damit ein grundsätzlicher Verzicht auf das
Wahre, Gute, Schöne und Heilige verbunden wäre,
wird klar, wenn man bedenkt, dass die Quelle für alles endliche verum, bonum, pulchrum und sacrum der unendliche und ewige Schöpfer allen Seins ist.
Der letztlich entscheidende Beitrag der Kirche für die Zukunft Europas besteht also darin, den Zugang zur Transzendenz offen zu halten.
Nun mag sich mancher darüber wundern, dass bei einer Erörterung über den Beitrag der Kirche zur Zukunft Europas bislang mit keinem Wort vom christlichen Glauben, von Offenbarung und Evangelium die Rede war, wo doch die Neuevangelisierung unseres Kontinents das große Anliegen der Kirche ist.
Noch vor aller Verkündigung des Evangeliums versteht sich die Kirche aber auch als Anwalt des Menschen, des Humanum. Darum sieht sie ihre Aufgabe auch in der Reparatur der humanen Fundamente. Damit bewegt sie sich im vorreligiösen Raum und vermag deshalb jeden unvoreingenommenen für vernünftige Argumentation offenen Partner anzusprechen. So können die Voraussetzungen für die Verkündigung und die Aufnahme des Evangeliums geschaffen werden. Indem sie also das natürliche Sittengesetz, die Bedeutung von Wahrheit und die Gottbezogenheit von Welt und Mensch erneut ins Bewusstsein der Gesellschaft zu rufen sucht, bereitet sie den durch die Ideologien des 20. Jahrhunderts ausgetrockneten und vergifteten Boden für die Aussaat des Evangeliums vor.
Nun stellt sich freilich die Frage, ob denn einem solchen Bestreben überhaupt noch Erfolg beschieden sein kann.
Sicher ist, dass das Maß des kirchlichen Einflusses
auf die sich selbst als säkular
verstehende Gesellschaft zunächst von der Zahl der
Gläubigen und ihrem sozialen
und politischen Gewicht bestimmt wird. Die
Kirche hat nur so viel Einfluss und
Macht wie die Gesellschaft ihr einzuräumen bereit ist. Was umgekehrt aber auch heißt — und das sei in Parenthese eingefügt — dass sich die negativen Erscheinungen in Europas jüngerer Geschichte keineswegs aus der Realisierung christlicher Maximen ergeben haben, sondern vielmehr aus der Abkehr von ihnen. Nun ist auch zu bedenken, dass den Christen von heute und morgen ganz anders als im späten 19. Jahrhundert und in der Zeit nach dem 2. Weltkrieg kein politischer Arm mehr zur Verfügung steht, wie ihn die christlichen Parteien der Vergangenheit geboten hatten. Hinzu kommt, dass die Medien, die die Öffentliche Meinung bestimmen, mit verschwindenden Ausnahmen in Händen sind, die gewiss nicht bereit sind, dem Auftrag der Kirche zu dienen.
Was, also, hat die Kirche, haben die Katholiken überhaupt noch an Chancen, den beschriebenen Beitrag zur Zukunft Europas zu leisten?
Es bleibt ihnen nur die Macht des Arguments. Und dieses Argument — sehen wir einmal von anderem ab — ist eine Frage, dazu noch eine utopische Frage:
Wie könnte dieses Europa aussehen, welche Art von Gesellschaft könnte entstehen, welche Kultur würde geschaffen, wenn das Europa von morgen wenigstens zunächst in seinen denkenden Schichten sich entschlösse, der Gestaltung des zusammenwachsenden Kontinents die Magna Charta des christlichen Verständnisses von Mensch und Welt zu Grunde zu legen?
Das würde nichts anderes bedeuten, als dass das Naturrecht im klassischen Verständnis, der Dekalog des Alten und die Bergpredigt des Neuen Testaments den Maßstab abgeben würden, an dem die Normen für das private wie für das gesellschaftliche Leben sich bewähren müssten. Keine Frage, dass eine solche Gesellschaft bei weitem humaner wäre als jene, in der die Macht des Stärkeren dem schrankenlosen Egoismus des Individuums Bahn zu brechen vermag, in der der Schwächere keine Chance hat, und in der Geld, Macht und Genuss als höchste Lebensziele gelten.
Wenn nun andererseits der Unantastbarkeit
der Person, der Verantwortung des
Einzelnen für das Ganze, der
Ehrfurcht vor dem Schöpfer und den Geschöpfen, der
Würde von Ehe und Familie gleichsam „Verfassungsrang“ zuerkannt würde, dann würde das zweifellos nicht das Paradies auf Erden zur Folge haben. Gewiss aber könnte auf dieser Basis bei aller Bruchstückhaftigkeit irdischer Realisierung eine weit menschenfreundlichere Gesellschaft entstehen als jene, in der wir heute leben. Eine Utopie gleich jener von Kants „Ewigem Frieden“? Wie aber an der marxschen Utopie von der klassenlosen Gesellschaft zu sehen ist, entfalten Utopien ihre eigene — im Falle von Marx weltzerstörende — Kraft. Warum sollte nicht auch die Utopie eines christlichen Europas ihre gestaltende, aufbauende Dynamik erweisen?
Inzwischen kann Europa auf ein Jahrhundert der Katastrophen zurückblicken. Sie waren als letzte Konsequenzen aus materialistischen und atheistischen Ideologien erwachsen, deren menschenfeindlicher Irrtum sich solchermaßen drastisch erwiesen hat.
In der dramatischen kulturgeschichtlichen Situation von heute stellt sich in der Tat die Frage, ob dieses krisengeschüttelte Europa nicht doch die Neugier und den Mut aufbringen sollte, das „christliche Experiment“ zu wagen.
(die Übersetzungen aus dem Lateinischen sind Einfügungen der Wallfahrtsdirektion)