Die schwäbische Hauptstadt Mariens

Ermutigende Berichte eines deutschen Bischofs in Russland

 

(Auszug aus dem Buch: Bischof Clemens Pickel„ Mit Herz u. Seele“, Benno-Verlag)

 Anna Schiebelbein

Ich befürchte kaum, mich zu täuschen, wenn ich sage: „Gerade in diesem Moment liegt die alte Großmutter Anna Schiebelbein im Bett und betet den Rosenkranz“ Denn sie liegt seit fünf Jahren und betet viel. Sie wohnt in einem kleinen russischen Dorf, nur 60 Kilometer von der Stadt entfernt, die immer noch den Namen „Marx“ trägt und in der ich seit vielen Jahren lebe. Trotzdem habe ich jene Gro0ßmutter bisher nur zweimal in meinem Leben gesehen. Sie ist eine der vielen Wolgadeutschen, die 1941 im Güter-wagen nach Kasachstan verschleppt wurden, eine der wenigen, die Obdachlosigkeit im ersten Winter, Kälte, Hunger und Menschen verachtende Zwangsarbeit überlebt hat. Anna Schiebelbein kehrt in den 80er Jahren an die Wolga zurück, in ihre Heimat. Sie hatte nicht aufgehört, zu beten, zu bitten, dass doch noch alles gut werde. Die Kinder jedoch hatten Angst, mit zu beten, und die Engel verstanden die Sprache der Großmutter nicht mehr. Vor einem Monat standen zwei erwachsene Enkelkinder jener Babuschka vor meiner Haustür: „Bitte kommen Sie! Noch ist die Großmutter bei Verstand, aber es geht ihr schlecht.“ Nach einer Stunde Fahrt bogen wir im Dunkel kurz vor dem Dorf von der Trasse ab. Kinder auf der finsteren Dorfstraße keiften sich an wie in einem bösen Film. Der Junge, der uns das Tor öffnete, kam mit einem Knüppel – für alle Fälle! Das erste Zimmer glich einem verfallenen Stall. Das war die Küche. Die Mutter entrahmte gerade Milch. Kleine Kinder und Katzen spielten in der Ecke. Das nächste Zimmer, drei Sofas zum Ausklappen, eine auseinandergenommener Fernseher in der Mitte. Wäsche am Fußboden. Hier wohnen alle, bis auf die Großmutter. Sie hat das letzte Zimmer, seit fünf Jahren. Es brauchte eine Zeit, bis ihr klar wurde, das ich Deutsch mit ihr sprach. Seit vielen Jahren hat das keiner mehr getan. Dann beichtete Anna Schiebelbein und empfing die heilige Kommunion wie einst vor vielen, vielen Jahrzehnten, als es hier an der Wolga noch Kirchen gab. Sie erinnerte sich an ihre Kindheit und schien den gleichen Frieden zu finden, in dem sie damals gelebt hatte. Sie bedankte sich endlos. Wahrscheinlich noch, als ich im Auto saß.

Mir scheint, dass die Großmutter ihr Leben lang nicht unzufrieden war. Traurig? Ja. Ratlos? Ja. Aber nie unzufrieden.

 

Ich auch

Wie kommt es, das in einer kleine Kirchengemeinde mit 150 Gottesdienstbesuchern am Sonntag innerhalb der letzten zehn Jahre sechs junge Frauen in eine Ordensgemeinschaft eingetreten sind und dass die Ordensgemeinschaft von Jahr zu Jahr wächst? Und das in Russland, wo drei Generationen lang der Glaube verlacht und schwer bestraft wurde. Wenn Sie jetzt meinen: Ah, Russland. Die große Not, die unsichere Zukunft, die russische Seele, die ja wohl doch in der Tiefe fromm geblieben ist, dann antworte ich Ihnen: „Weit gefehlt!“ Ich bin dabei gewesen, als die jungen Frauen zum Teil noch in der Schul- oder Berufsausbildung ihre Entscheidung trafen. Fundiert im Glauben wünschten sie sich, nicht nur etwas für Gott und die Menschen zu tun, sondern ihr ganzen Leben einzusetzen. Sie kümmern sich um Kranke, unterrichten Kinder, Jugendliche, oft aber auch Erwachsene mit ihren unzähligen Fragen zum Glauben und zum Leben, und das alles mit einer so ungezwungenen und natürlichen Art, dass es in vielen, die das erleben, den Wunsch weckt: Ich möchte auch dazu gehören.

Wenn ich Ihnen heute von diesen Ordensschwestern erzähle, dann tue ich das nicht, damit sie sagen: Ja ich kannte auch einmal eine Schwester, sondern um sie daran zu erinnern, wie wichtig unser persönliches Zeugnis im Alltag ist, kein erzwungenes, das wirkt immer künstlich und abstoßend, sondern ein aufrichtiges, natürliches Bekenntnis zu dem, wofür ich mich entschieden habe. Sicher löst das nicht sofort alle Probleme in Kirche und Gesellschaft, aber die fehlende Klarheit in unseren Worten und Taten ist ganz sich ein Grund vieler Probleme.

 

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